Passend zum Jahreswechsel stand ein Ortswechsel an und Bureau FM hat eine neue Anschrift: die Spinnereistraße 7. Seit Anfang 2021 gehöre ich also zu den kreativen „Spinnern“, die auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei ihre Zelte aufgeschlagen haben.
Hachja, der Leipziger Westen: ein Melting Pot der Leipziger Kultur- und Kreativwirtschaft und mit seinen großen und kleinen Industriebauten eine der spannenderen Ecken der Stadt. Da wären die Buntgarnwerke an der Weißen Elster in Schleußig, die alte Kammgarnspinnerei in der Erich-Zeigner-Allee, ein Stück westwärts am Karl-Heine-Kanal liegt dann das Stelzenhaus, in Sichtweite ist die Konsumzentrale, um die Ecke an der Karl-Heine-Straße steht das Westwerk, weiter westlich an der Lützner Straße das Tapetenwerk und auch sonst gibt es noch das eine oder andere brachliegende Schmuckstück, das nur darauf wartet, neues Leben eingehaucht zu bekommen. Über die Industriebauten in Leipzig schrieb Ansgar Stadler 2019 eine Reihe von lesenswerten Beiträgen für das Architektur-Magazin »Baumeister«.
Über die Stadtgrenzen hinaus bekannt — ja selbst in New York kennt man sie — liegt mit annähernd zehn Hektar Grundstücksfläche der vermutlich spannendste aller Industriebauten Leipzigs: die Spinnerei. Legenden ranken sich um diesen Ort. Wer Jim Whitings Projekt »Bimbotown« miterlebt hat, darf sich gern mal von mir zu einer Tasse Kaffee einladen lassen und darüber berichten.
From cotton to culture
1884 wurde der Grundstein gelegt und es sollte bis 1907 dauern, eh die letzte Halle stand — rückblickend eine beachtliche Leistung, denn heute noch braucht manch Flughafen 14 Jahre Bauzeit. Schon im ersten Jahr der Gründung wurde der Betrieb aufgenommen und in den über 100 Jahren, bis die Produktion nach der deutschen Wiedervereinigung eingestellt wurde, arbeiteten bis zu 4.000 Menschen in dieser kleinen Fabrikstadt, die mit ihren 20 Produktionshallen, den Wohnhäusern, Kindergarten und Krankenhaus als die größte Baumwollspinnerei in ganz Europa galt.
Wenige Jahre nach der Wende wurde es erst einmal still, als Anfang 1993 auch die letzten Maschinen abgestellt wurden. Noch im selben Jahr begann sich der Ort zu wandeln: Künstler:innen beseelten die leer stehenden Fabrikräume, Werkstätten wurden errichtet, Galerien eröffnet. Nach und nach wurde aus diesem Ort der Akkordarbeit ein Hort kreativer Entfaltung. Bis Anfang der 2000er Jahre entwickelte sich dieses neue Wesen der Spinnerei noch sehr gemütlich.
Ab 2001 und in den unmittelbar darauf folgenden Jahren nahmen sich die heutigen Eigentümer des Geländes der behutsamen Weiterentwicklung an und dann ging gefühlt alles Schlag auf Schlag: Neo Rauch und mit ihm die »Neue Leipziger Schule« erlangten internationale Bekanntheit, US-amerikanische Kunstsammler:innen und Galerist:innen besuchten das Gelände regelmäßig und befeuerten seinen Ruf, der britische Guardian erklärte die Spinnerei zum obersten Reiseziel für Kunstinteressierte und ja, sogar die New York Times verfasste eine kleine Liebeserklärung. Ich selbst erinnere mich noch gut an den kleinen medialen Hype, als 2009 fünf großformatige Leinwandarbeiten von Damien Hirst in der Werkschau ausgestellt wurden.
Aber wer gern mehr über den Wandel des Geländes erfahren möchte, beliest sich am besten direkt auf der offiziellen Website der Spinnerei. In einem ausführlicheren Text erzählen die heutigen Eigentümer Dr. Florian Busse, Tillmann Sauer-Morhard, Karsten Schmitz und Bertram Schultze von dem Abenteuer, das seinen Anfang vor knapp 20 Jahren nahm.
Und heute?
Neben vielen Ateliers und Galerien befinden sich heute auch Architekturbüros und Werkstätten und auch das LURU-Kino auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei. Vor knapp zwei Jahren hat das LOFFT hier außerdem ein neues Zuhause gefunden. Auch übernachten kann man in der Spinnerei: in einem der Meisterzimmer — sobald es wieder möglich ist und sofern sie nicht ausgebucht sind. In der Bäckerei, die Teil des bald neu eröffnenden Café mule ist, gibts leckeres Gebäck und guten Kaffee.
Der sehr heterogene Mix an Mieter:innen auf dem Gelände macht diesen Ort jedenfalls nach wie vor sehr interessant und die weitere Entwicklung wird sicher spannend zu beobachten sein. Ich freue mich jedenfalls auf die Zeit, die ich hier verbringen darf — und natürlich auf den nächsten Rundgang, sobald so etwas wieder möglich sein wird.